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Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Millionen Darlehensverträge widerrufbar.

Mit seinem Urteil vom 09. September 2021 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass nahezu jeder Darlehensvertrag aufgrund unzureichender Pflichtangaben auch Jahre nach einem Abschluss widerrufbar ist. Der EuGH folgte damit der Auffassung, dass in vielen privaten Darlehensverträgen unzureichende Angaben gemacht wurden. Diese Ausübung des sogenannten „ewigen Widerrufsrechtes“ hat die Konsequenz, dass sowohl der Darlehensvertrag als auch der eigentliche Kaufvertrag rückabgewickelt werden und der Verbraucher sein Geld gegen Rückgabe des Kaufgegenstands zurückerhält.

Am Beispiel eines Autokredites wird sofort die enorme Chance deutlich, die sich damit Verbrauchern bietet: Es handelt sich um nicht weniger als die Möglichkeit, unabhängig vom Dieselskandal ihr Fahrzeug verlustfrei zurückgeben zu können, wenn der Kauf über einen Kredit finanziert wurde!

Weitreichende Auswirkungen, nicht nur für Autokreditverträge

Allgemein lässt sich sagen, dass die Entscheidung des EuGHs den Verbrauchern den vorzeitigen Ausstieg aus einer Finanzierung und damit einen immensen finanziellen Vorteil ermöglichen könnte. Den Banken droht jetzt eine riesige Widerrufswelle, nicht nur bei Autokrediten, sondern im Prinzip bei jeglichen finanzierten Verbrauchsgütern.

Die den Vorlagebeschlüssen zugrundeliegenden Fälle sind zwar tatsächlich über die Volkswagen Bank GmbH finanzierte Käufe von Fahrzeugen, die vom Abgasskandal betroffen sind, doch die EuGH-Vorlage betrifft jeglichen finanzierten Kauf, egal wie groß (Heimkinoanlage, Waschmaschine) oder klein (Handy) er sein mag.

Verbraucher sollten sich daher jetzt informieren, wie ein mögliches Vorgehen in ihrem konkreten Fall aussehen könnte.

Fehlerhafte Formulierung: Nahezu alle Verbraucherdarlehensverträge betroffen

Die von der Volkswagen Bank GmbH in ihren Darlehensverträgen verwendeten Formulierungen finden sich in unterschiedlichen Ausformulierungen in nahezu jedem Verbraucherdarlehensvertrag, der zwischen dem 11. Juni 2010 und heute in Deutschland abgeschlossen wurde.

Mit dem Beschluss des LG Ravensburg, die verwendeten Formulierungen dem EuGH zur Prüfung vorzulegen, kommt auf die Banken nun eine erneute Widerrufswelle zu. Noch im November 2019 sah es durch eine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zumindest teilweise danach aus, als könnten „späte“ Widerrufe mit dem juristischen Argument der Verwirkung oder der rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerrufrechtes abgewendet werden.

Bisherige Urteile des BGH: Verbraucherunfreundlich

Konkret hatte am 5. November 2019 der BGH die Revisionen von zwei Autokäufern zurückgewiesen und entschieden, dass Verbraucher ihre Autokredite nicht noch Jahre nach Abschluss des Vertrags widerrufen können (Urteil vom 5.11.2019, XI ZR 650/18 und XI ZR 11/19). Zwar bezog sich dieses Urteil lediglich auf die im einzelnen geprüften Vertragsformulare (BMW Bank, Ford Bank), trotzdem handelte es sich um ein zutiefst verbraucherunfreundliches Urteil und schwächte die Rechtsposition der Verbraucher.

Im Rahmen seiner Entscheidungsfindung hat sich nun der EuGH, der als verbraucherfreundlich gilt, auch mit der BGH-Rechtsprechung auseinandergesetzt und für Rechtssicherheit gesorgt. Mit der Entscheidung des EuGH wird nun klar, dass der BGH im vergangenen Jahr entgegen den europäischen Vorgaben entschieden hat. Millionen Verbraucher könnten dann von einer verbraucherfreundlichen Entscheidung finanziell massiv profitieren, indem sie ihre Darlehensverträge widerrufen.

Ewiges Widerrufsrecht: Das zeitlich unbeschränkte Widerrufsrecht für Verbraucher

Wenn seitens der finanzierenden Bank bei Verträgen, die ab dem 11. Juni 2010 geschlossen wurden, eine fehlerhafte Widerrufsinformation verwendet worden ist oder aber gesetzlich vorgeschriebene Pflichtangaben fehlen, können (Auto-)Käufer noch nach Ablauf der 14-tägigen Widerrufsfrist, sogar nach Jahren, widerrufen und rückabwickeln! Dem Verbraucher steht dann das sogenannte „ewige Widerrufsrecht“ zu, denn die Frist hatte nie begonnen, zu laufen.

Insbesondere den Kauf eines Fahrzeugs finanzieren viele Verbraucher über einen Autokredit. Sehr häufig wird dabei das bequeme Angebot des Autoherstellers genutzt, die Finanzierung direkt über die hauseigene Bank abzuwickeln. Aber im Unterschied zu den meisten anderen Verbraucherkrediten kommt beim Autokredit dadurch eine Besonderheit hinzu: Das verkaufende Autohaus wird zur Vermittlerin des Darlehens, denn sie bereitet den Vertrag vor, verwendet dafür die von der Bank bereitgestellten Formulare und schließt ihn letztlich ab. Durch diese Mitwirkung des Verkäufers bewirkt ein Darlehenswiderruf dann auch, dass der Autokäufer nicht mehr an das zu finanzierende Fahrzeug gebunden ist.

Der Widerruf des Darlehens bietet somit die Chance, sich nicht nur von der Autofinanzierung allein, sondern auch vom Auto selbst zu lösen. Das Fahrzeug geht dabei an die Bank, weitere Ratenzahlungen des Kreditnehmers entfallen, die Bank muss alle bereits gezahlten Raten und etwaige Sonderzahlungen zurückzuerstatten und es müssen keine Nutzungsentschädigungen geleistet werden. Allerdings behält die Bank die vertraglich vereinbarten Zinsen.

Worüber entschied der EuGH? Die Vorlagefragen des LG Ravensburg zur Auslegung des Unionsrechts

Im Wesentlichen ging es in den beiden Vorlagen an den EuGH um die Fragen, in welcher Art und Weise bestimmte Pflichtangaben in Verbraucherdarlehensverträgen ausgestaltet sein müssen und ob der Verbraucher sein Widerrufsrecht verwirken kann bzw. wann er es rechtsmissbräuchlich anwendet. Der erste Vorlagebeschluss befasste sich mit den Angaben im Zusammenhang mit dem Verzugszinssatz (Frage 1), der Vorfälligkeitsentschädigung (Frage 2) sowie den Kündigungsrechten (Frage 3).

Der zweite Vorlagebeschluss stellte die Frage, ob der Verzugszinssatz als absolute Zahl angegeben werden muss und ob zusätzlich der Mechanismus der Zinsanpassung genannt werden muss (Frage 1), ob der konkrete Rechenweg für eine Vorfälligkeitsentschädigung genannt werden muss (Frage 2) und wie detailliert die Angaben zum Kündigungsrecht sein müssen (Frage 3). Besondere Bedeutung haben Frage 4 und 5: Kann sich der Kreditgeber auf den Einwand der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts des Verbrauchers auch dann berufen, wenn Pflichtangaben fehlen oder falsch sind (er das also selbst verschuldet hat) mit den Argumenten, seit Vertragsschluss sei bereits geraume Zeit verstrichen, der Vertrag sei bereits vollständig erfüllt, Kreditsicherheiten wurden bereits freigegeben oder der Verbraucher habe den finanzierten Gegenstand ja genutzt und/oder bereits weiterverkauft?

Häufige Fragen zu diesem Thema

Fragen des ersten Vorlagebeschlusses vom 7. Januar 2020, Az. 2 O 315/19:

    1. Ist Art. 10 Abs. 2 lit. l) Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (im Folgenden: RL 2008/48/EG) dahin auszulegen, dass im Kreditvertrag
      • a) der bei Abschluss des Kreditvertrages geltende Verzugszinssatz als absolute Zahl mitzuteilen ist, zumindest aber der geltende Referenzzinssatz (vorliegend der Basiszinssatz gem. § 247 BGB), aus dem sich der geltende Verzugszinssatz durch einen Zuschlag (vorliegend von fünf Prozentpunkten gem. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) ermittelt, als absolute Zahl anzugeben ist?
      • b) der Mechanismus der Anpassung des Verzugszinssatzes konkret zu erläutern ist, zumindest aber auf die nationalen Normen, aus denen sich die Anpassung des Verzugszinssatzes entnehmen lässt (§§ 247, 288 Absatz 1 Satz 2 BGB), verwiesen werden muss?
    2. Ist Art. 10 Absatz 2 lit. r) RL 2008/48/EG dahin auszulegen, dass im Kreditvertrag ein konkreter vom Verbraucher nachvollziehbarer Rechenweg für die Ermittlung der bei vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens anfallenden Vorfälligkeitsentschädigung anzugeben ist, so dass der Verbraucher die Höhe der bei vorzeitiger Kündigung anfallenden Entschädigung zumindest annäherungsweise berechnen kann?
    3. Ist Art. 10 Absatz 2 lit. s) RL 2008/48/EG dahingehend auszulegen, dass im Kreditvertrag
      • a) auch die im nationalen Recht geregelten Kündigungsrechte der Parteien des Kreditvertrags angegeben werden müssen, insbesondere auch das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB bei befristeten Darlehensverträgen?
      • b) bei sämtlichen Kündigungsrechten der Parteien des Kreditvertrags auf die bei der Ausübung des Kündigungsrechts jeweils vorgeschriebene Frist und Form für die Kündigungserklärung hinzuweisen ist?

Fragen des zweiten Vorlagebeschlusses vom 5. März 2020, Az. 2 O 328/19, 2 O 280/19 und 2 O 334/19:

  1. Ist Art. 10 Abs. 2 lit. l) Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (im Folgenden: RL 2008/48/EG) dahin auszulegen, dass im Kreditvertrag
    • a) der bei Abschluss des Kreditvertrages geltende Verzugszinssatz als absolute Zahl mitzuteilen ist, zumindest aber der geltende Referenzzinssatz (vorliegend der Basiszinssatz gem. § 247 BGB), aus dem sich der geltende Verzugszinssatz durch einen Zuschlag (vorliegend von fünf Prozentpunkten gem. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) ermittelt, als absolute Zahl anzugeben ist?
    • b) der Mechanismus der Anpassung des Verzugszinssatzes konkret zu erläutern ist, zumindest aber auf die nationalen Normen, aus denen sich die Anpassung des Verzugszinssatzes entnehmen lässt (§§ 247, 288 Absatz 1 Satz 2 BGB), verwiesen werden muss?
  2. Ist Art. 10 Absatz 2 lit. r) RL 2008/48/EG dahin auszulegen, dass im Kreditvertrag ein konkreter vom Verbraucher nachvollziehbarer Rechenweg für die Ermittlung der bei vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens anfallenden Vorfälligkeitsentschädigung anzugeben ist, so dass der Verbraucher die Höhe der bei vorzeitiger Kündigung anfallenden Entschädigung zumindest annäherungsweise berechnen kann?
  3. Ist Art. 10 Absatz 2 lit. s) RL 2008/48/EG dahingehend auszulegen,
    • a) dass im Kreditvertrag auch die im nationalen Recht geregelten Kündigungsrechte der Parteien des Kreditvertrags angegeben werden müssen, insbesondere auch das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB bei befristeten Darlehensverträgen?
    • b) (falls die vorstehende Frage a) verneint wird) dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, welche die Nennung eines nationalen Sonderkündigungsrechts zu einer zwingenden Angabe im Sinne des Art. 10 Abs. 2 lit. s) RL 2008/48/EG macht?
    • c) dass im Kreditvertrag bei sämtlichen Kündigungsrechten der Parteien des Kreditvertrags auf die bei der Ausübung des Kündigungsrechts jeweils vorgeschriebene Frist und Form für die Kündigungserklärung hinzuweisen ist?
  4. Ist bei einem Verbraucherkreditvertrag die Berufung des Kreditgebers auf den Einwand der Verwirkung gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts des Verbrauchers gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 RL 2008/48/EG ausgeschlossen,
    • a) wenn eine der in Art. 10 Absatz 2 RL 2008/48/EG vorgeschriebenen Pflichtangaben weder ordnungsgemäß im Kreditvertrag enthalten noch nachträglich ordnungsgemäß erteilt worden ist und somit die Widerrufsfrist gem. Art. 14 Absatz 1 RL/2008/48/EG nicht begonnen hat?
    • b) (falls die vorstehende Frage a) verneint wird) wenn die Verwirkung maßgeblich auf den Zeitablauf seit Vertragsschluss und/oder auf die vollständige Erfüllung des Vertrags durch beide Vertragsparteien und/oder auf die Disposition des Kreditgebers über die zurückerhaltene Darlehenssumme oder die Rückgabe der Kreditsicherheiten und/oder (bei einem mit dem Kreditvertrag verbundenen Kaufvertrag) auf die Nutzung oder die Veräußerung des finanzierten Gegenstands durch den Verbraucher gestützt wird, der Verbraucher jedoch in dem maßgeblichen Zeitraum und bei Eintritt der maßgeblichen Umstände von dem Fortbestehen seines Widerrufsrechts keine Kenntnis hatte und diese Unkenntnis auch nicht zu vertreten hat, und der Kreditgeber auch nicht davon ausgehen konnte, dass der Verbraucher eine entsprechende Kenntnis hat?
  5. Ist bei einem Verbraucherkreditvertrag die Berufung des Kreditgebers auf den Einwand des Rechtsmissbrauchs gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts des Verbrauchers gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 RL 2008/48/EG ausgeschlossen,
    • a) wenn eine der in Art 10 Absatz 2 RL 2008/48/EG vorgeschriebenen Pflichtangaben weder ordnungsgemäß im Kreditvertrag enthalten noch nachträglich ordnungsgemäß erteilt worden ist und somit die Widerrufsfrist gem. Art. 14 Absatz 1 RL/2008/48/EG nicht begonnen hat?
    • b) (falls die vorstehende Frage a) verneint wird) wenn die missbräuchliche Rechtsausübung maßgeblich auf den Zeitablauf seit Vertragschluss und/oder auf die vollständige Erfüllung des Vertrags durch beide Vertragsparteien und/oder auf die Disposition des Kreditgebers über die zurückerhaltene Darlehenssumme oder die Rückgabe der Kreditsicherheiten und/oder (bei einem mit dem Kreditvertrag verbundenen Kaufvertrag) auf die Nutzung oder die Veräußerung des finanzierten Gegenstands durch den Verbraucher gestützt wird, der Verbraucher jedoch in dem maßgeblichen Zeitraum und bei Eintritt der maßgeblichen Umstände von dem Fortbestehen seines Widerrufsrechts keine Kenntnis hatte und diese Unkenntnis auch nicht zu vertreten hat, und der Kreditgeber auch nicht davon ausgehen konnte, dass der Verbraucher eine entsprechende Kenntnis hat?